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Späte Metamorphose – aus der Perspektive von Philomela

Ich weiß nicht wie viele Jahre – oder sind es schon Jahrzehnte, mir kommt es vor wie Jahrhunderte – ich schon hier lebe in dieser Anstalt. Irgendwann hat es Prokne und mich hierher verschlagen, nachdem ...

Es kommen immer wieder neue Mädchen und junge Frauen hierher, für die es sonst, draußen in der Welt, keinen Platz mehr gibt. Mit den meisten kann ich wenig anfangen, sie gehen mir auch manchmal ziemlich auf die Nerven. Erin zum Beispiel mit Ihrem Unsterblichkeitstick und ihrem Ich-bin-eigentlich-eine-Erinnye-Gehabe oder Iphigenie, die ständig mit der männermordenden Axt ihrer Mutter herumfuchtelt. Aber dann ist Eine gekommen, die scheint etwas Besonderes zu sein. Ismene. Ein bisschen altklug, aber es hat mich mitten ins Herz getroffen, wie sie meinen Gobelin angesehen hat. Ich glaube nicht, dass sie seine volle Bedeutung, seine Botschaft, erkannt hat. Aber sie hat sofort gemerkt, dass dieser Wandteppich mehr ist als Stück ein Stoff zur Zierde von Proknes Zimmer. Ich habe das mitgekriegt, weil ich ... ich verstecke mich oft hinter dem Gobelin, weil ... ich weiß nicht genau warum, weil ich ... vielleicht weil ich einfach nicht aus meiner Geschichte herauskomme. Immer wieder muss ich in sie hineinschlüpfen, wie in ein altes Hemd.

Ismenes Auftritt war recht eindrucksvoll. Sie hat sich mit einem ohrenbetäubenden und alles um uns herum vernichtenden Erdbeben angekündigt. Zuerst wussten wir natürlich noch nicht, was das zu bedeuten hatte, was daraus noch folgen würde. Auch als dieser Bote auftauchte, war ich noch völlig ahnungslos. Eigentlich war ich sogar ein bisschen froh, dass überhaupt einmal irgendetwas passierte in diesem trostlosen Dasein. Kurz nach dem Erdbeben und Ismenes Eintreffen erklang dann ein schreckliches Geheule und Geklage vor dem Tor der Anstalt. Wir mussten keine Angst haben, denn nichts kann hier eindringen, außer wenn Prokne oder ich das Tor öffnen. Aber unheimlich war es doch. Und plötzlich hämmerte jemand an das Tor, schrie um Hilfe und bettelte um Einlass. Ich habe Prokne zu den Mädchen geschickt, um die zu beruhigen – sie kann wirklich gut mit den Gören umgehen. Und irgendwie war sie froh, dass sie diese Entscheidung nicht treffen musste. Sie meinte wir sollen nicht aufmachen, aber wenn jemand so um Hilfe schreit – es gab eine Zeit, da wäre ich froh gewesen, wenn ich um Hilfe hätte rufen können ... wenn mir jemand geholfen hätte. Ich musste das Tor einfach öffnen.

Dann kam dieser Te herein. Ein verängstigter Typ, der sich als Bote ausgab. Ich hab ihm natürlich nicht geglaubt, als er behauptete der Bote von Ismenes Chor zu sein. Schließlich hatte ich mitbekommen wie den die Erde verschluckte. Aber schon nach kurzer Zeit wurde mir klar: Das Jammern und Wehklagen stammte wirklich von Ismenes Chor, er war von den Toten auferstanden. Das konnte nur eines bedeuten: Eine Tragödie! Die tragische Geschichte des Hauses Ödipus war anscheinend noch nicht zu Ende. Es sollte noch ein abschließendes Kapitel geben.

Mir war sofort klar, dass dagegen nichts zu machen war. Selbst wenn wir die Türen geschlossen halten und Ismene nicht rausrücken würden: Was beschlossenes Schicksal war, würde sich in jedem Fall erfüllen. Prokne dagegen glaubt immer noch, dass man das, was einem prophezeit und in die Wiege gelegt wurde, umgehen kann. Dabei müsste sie es besser wissen als jede andere, schließlich hat sie schon einmal versucht, ein Schicksal zu verhindern. Mein Schicksal. Und wer weiß, vielleicht ist durch ihre Selbstüberschätzung alles noch schlimmer geworden, als es ursprünglich gedacht war ... Wie auch immer, Prokne hat entschieden, dass die Türen geschlossen bleiben, und Ismene wurde nicht hinaus geschickt zu ihrem Chor, wo sie eigentlich hingehörte. Den Boten wurden wir allerdings auch nicht mehr los. Wir konnten das Tor nicht mehr öffnen, um ihn rauszuwerfen. Der Chor, der seine Tragödie forderte, war schon direkt davor. Die wären hier hereingeströmt wie verhungerte Ratten.

Ich zeigte dem Boten schließlich eine Ecke zum Schlafen und brachte ihm was zu trinken. Zwar hatte ich ihm das Leben gerettet, aber mittlerweile war ich doch unsicher, ob es wirklich so gut gewesen war, ihm zu helfen. Ich kann Boten sowieso nicht ausstehen. Sie haben keine Ahnung vom wirklichen Leben, überbringen nur schlechte Nachrichten und fühlen sich wichtiger als die Menschen, über deren tragisches Schicksal sie berichten. Aber als ich mit ihm redete, wurde mir langsam klar, dass er kein einfacher Bote sein konnte, dass ich etwas wirklich Schlimmes in unsere Anstalt eingelassen hatte (auch wenn ich da noch nicht wusste, was): Er kannte meinen Namen und dass ich die zweite Frau des ... Ich kann das nicht ertragen, wenn jemand diesen Namen erwähnt, den Namen des Mistkerls, der ... Mir wurde schlecht. Ich musste weg von diesem Boten. Ich holte mir Wein und begann, mich zu betrinken.

Prokne hat schließlich alle im Mädchenschlafsaal versammelt. Die Tragödie kündigte sich mittlerweile auch durch eisige Kälte an. Wir hatten schon davon gehört, dass Theben in tiefem Schnee versank, seit Kreon nach dem Tod seiner Frau und dem seines Sohnes verrückt geworden war. Nie hätten wir gedacht, dass sich dieser Winter bis zu uns her ausbreiten würde. Aber jetzt war es doch so gekommen. Es schneite, mitten im Winter, und ich trank immer noch mehr von dem „stinkenden Wein“, wie meine Schwester zu sagen pflegt. Ich war schrecklich aufgewühlt, wegen des Boten und ganz außer mir, weil er diesen Namen erwähnt hatte. In mir wüteten eine große Verzweiflung und eine große Wut auf alles – das Schicksal, mein Leben, meine Schwester und vor allem auf die Götter, diese übermächtigen Scheißgötter, die uns alles Leid einbrocken und uns für unser Missgeschick auch noch bestrafen. Und in meinem Suff pickte ich mir das schwächste Glied unserer Notgemeinschaft heraus und machte es regelrecht zur Sau – Erin. Ich tobte und tobte, bis Prokne mich in die Schranken verwies – sie schlug mir ins Gesicht. Dann demonstrierte sie auch noch ihre Überlegenheit, indem sie mir sagte, dass sie diesen Namen, der fast mein ganzes Leben beherrschte, sehr wohl anhören und sogar selbst aussprechen könne ... Ich war wieder einmal fertig mit der Welt. Ich legte mich zu der kranken Iphigenie und schlief dann irgendwann ein.

Als ich erwachte hatte ich einen schrecklichen Kater. Es musste wohl ein Geräusch gegeben haben, so viel konnte ich Ismenes Worten entnehmen. Sie war ganz aufgeregt, wollte unbedingt raus, aber ich hielt sie davon ab. Und nun entspann sich ein für mich folgenschweres Gespräch. Danach sollte ich nicht mehr dieselbe sein wie vorher: Ismene vertrat für sich das Recht der Selbstbehauptung, was lächerlich war, angesichts der aktuellen Situation. Ich versuchte, ihr klarzumachen, dass es keinen Zweck hat, sich gegen das vorherbestimmte Schicksal aufzulehnen, alles kommt, wie es kommen soll. Ich wollte ihr klarmachen, was „Vorsehung“ bedeutet und verwendete dieses Wort immer wieder und wieder. Und je öfter ich es benutzte, umso mehr verlor es an Bedeutung, wurde zu einer leeren Hülse, die nur aus Lauten bestand, aber nichts mehr aussagte. Dazu kam, dass Ismene einen Satz sagte, der mich zutiefst berührte, der eine Wahrheit ansprach, die ich nicht wissen wollte: „Deshalb hassen Sie auch die Götter so, weil Sie sich Ihnen gegenüber als schwach machtlos dargestellt haben.“ Natürlich wehrte ich mich gegen das siebengescheite Geschwätz dieser Göre und holte zum ultimativen Argument aus, das für die Vorsehung sprach – die Geschichte von meiner Schwester und mir – obwohl ich tief im Inneren spürte, wie wahr dieser Satz gewesen war. So wie Ismene etwas in meinem Gobelin erkannt hatte, erkannte ich mich plötzlich durch diesen Satz. Und tief in meinem Inneren kristallisierte sich eine ungekannte Haltung heraus, ich kapierte, während ich Proknes und meine Leidensgeschichte erzählte: Ich bin vergewaltigt und misshandelt worden, aber ich muss deshalb nicht den Rest meines Lebens als Opfer verbringen. Aber ich wehrte mich gegen diese Einsicht. Schließlich hatte ich fast mein ganzes bisheriges Leben als Opfer verbracht; wie kann man plötzlich anders leben? Ich redete und redete und erzählte unsere Geschichte bis zum bitteren Ende. Und dann sagte Ismene etwas ganz Ungeheuerliches. Sie hatte gerade gehört, was meiner Schwester und mir widerfahren war, eine Geschichte, die man nur ertragen kann, wenn man fest daran glaubt, dass sie irgendeinen höheren Sinn hat. Und sie? Sie sagt mir ins Gesicht: „Die Vorsehung kann nur wahr werden, wenn man sie mit offenen Armen empfängt. Egal wie grausam oder widerwärtig es sein mag, Sie spielen dabei Ihre Rolle.“ Ich, das Vergewaltigungsopfer, sollte also selbst die Schuld tragen an der Vergewaltigung? Das Opfer sollte die Verantwortung dafür übernehmen? In höchster Rage packte ich diesen Grünschnabel am Arm, zerrte ihn zur Tür und schrie: „Dann spiel DU doch DEINE Rolle. Los, öffne die Tür, geh hinaus und stell dich ihm entgegen. Sag ihm da, dass es keine Vorsehung gibt.“ – Noch nie habe ich mich so frei gefühlt, wie in diesem Zustand und – merkwürdigerweise – im Augenblick der tiefsten Beleidigung.

Ich wusste, dass mein Leben von nun an anders verlaufen würde, aber so weit war es noch nicht, wie sich bald herausstellte. Ich musste noch tiefer durch das Höllenfeuer meiner Lebenslüge gehen. Zuerst ging alles ganz schnell. Dieser Bote kam herein, wissen die Götter woher. Er tötete Iphigenie, öffnete wie von Zauberhand die Tür, Ismene rannte hinaus und im selben Moment war die Tür wieder verschlossen. Der Bote behauptete, Tereus zu sein. Er sprach auch mit der Stimme dieses Mistkerls und führte sich auf wie er. Und er redete so eindringlich in mich hinein, und ich durchlebte noch einmal die Angst und Schmach von damals. Ich versuchte mich aufzulehnen, meine Angst zu unterdrücken, aber meine innere Freiheit war noch zu schwach, und ich konnte mich nicht gegen diesen massiven Angriff aus der Vergangenheit wehren. Nach und nach, Stück für Stück versteinerte ich und folgte schließlich diesem Monster.

Ab nun gehörte ich zum Chor. Ich sagte Worte, die ich nicht selbst auswählte, sie kamen einfach aus meinem Mund, ich konnte nichts dagegen unternehmen. Ich beobachtete Ismene und den Boten wie aus einem tiefen, dunklen Keller heraus. Ich war dabei nur ein kleines Nichts von Philomela, eingeschlossen in einer Maske wie ein Schmetterling in seinen Kokon. Und in meinem Kokon hatte ich das Gefühl, dass ich mich gerade jetzt in mein Schicksal ergeben müsse, gerade, als ich es nicht mehr wollte. Dass der Bote sich schließlich als Gott Apoll herausstellte wunderte mich kaum. Ich wusste schon vorher, dass er weder ein Bote noch Tereus sein konnte.

Dann begann Ismene plötzlich, diesen Gott auf den Arm zu nehmen, sie sprach auch mit uns, dem Chor, und von diesem Augenblick an fiel ein ganz kleiner Lichtstrahl in das Dunkel meiner Seele. Ich konnte wieder besser atmen und die Chorkleidung war nun nicht mehr so eng. Mehr und mehr gewann ich, Philomela, Raum in mir selbst. Ich sah Prokne am Boden, ich sah mein Schwert. Ich wusste, dass ich es nun nicht mehr ständig mit mir herumtragen würde, um mich unentwegt an meine schreckliche Geschichte zu erinnern. Ich würde es vielleicht an die Wand meines Zimmers hängen und nur noch in die Hand nehmen, wenn ich es wirklich brauchen würde.

Ich hörte Apollon zu und konnte kaum glauben, dass ich recht gehabt hatte: Die Götter tun, was sie tun, nur aus Lust und Laune. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen: Sie waren nicht unser Schicksal, sie spielten nur Schicksal. Was ich einmal für einen Lebenssinn gehalten hatte, war nichts als das Produkt gelangweilter Global Player der Vorsehung.

Und sie erwiesen sich als gar nicht so mächtig, wie wir Menschen sie sahen. Auch wenn die Götter vielleicht unsterblich sind, wir können uns trotzdem von ihnen befreien. Wir können sie verschwinden lassen. Ismene hat das bewiesen! Und ich werde mich nicht mehr von ihnen oder ihren Marionetten, die Sie hochtrabend „tragischer Chor“ nennen, halten lassen wie eine Gefangene. Ich nehme mein Schwert und stelle mich ihnen entgegen. Immer und immer wieder, wenn es sein muss.