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Theater als Posttraumatische Belastungsstörung?

„Den Darstellerinnen wird kaum Aktion abverlangt, aber ihr Text wirkt so ausgefeilt, dass das zur Stärke wird“, heißt es in einer Kritik der Züricher Landzeitung am 30.01.2007 zur Schweizer Erstaufführung des Stückes Nordost von Torsten Buchsteiner.

Die Stärke des Textes wird schon beim ersten Lesen augenfällig: Eines späten Abends vor etwa einem Jahr habe ich das Skript zur Hand genommen und nicht weggelegt, bis ich es ganz durchgelesen hatte. Das ist nach einem arbeits- und probenreichen Tag eher eine Seltenheit, meistens schlafe ich nach wenigen Seiten ein. Woher rührt diese starke Wirkung? Der Text ist hinsichtlich Informationsvergabe, Handlung und Geschichte, Zeit- und Raumstruktur so spannend gebaut, dass man sich seinem Sog einfach nicht entziehen kann. Darüber hinaus sind die drei Frauenfiguren, die hinsichtlich ihres sozialen und kulturellen Hintergrundes unterschiedlicher nicht sein könnten, absolut überzeugend gezeichnet, und beim Lesen stellte ich mir oft die Frage: Was wäre, wenn mir das passieren würde? Die Monologe sind genial miteinander verschränkt, die Passagen, die der Autor Trialoge nennt, wie Terzette stringent durchkomponiert. Aber – Die Schauspielerinnen erscheinen weitgehend als Solistinnen in diesem Werk, der Text ist im Wesentlichen ein epischer Text, es wird viel berichtet und erzählt. Ein wirklicher Dialog zwischen den Figuren findet selten statt. Sicher, gelesen – keine Frage – hervorragend, das Stück. Aber – Wie gehe ich als Schauspielerin an einen solchen Text heran? Wie setze ich ihn auf der Bühne um? Wo, wenn überhaupt haben Emotionen ihren Platz? Und wem berichte ich eigentlich? Werde ich interviewt? Höre ich, was die beiden anderen erzählen? Reagiere ich darauf? Verlangt das Stück aufgrund seiner Komposition episches Theater ganz im Brechtschen Sinne? Immer wieder tauchen diese und andere Fragen auf, wir proben und probieren, oft finden wir punktuelle Lösungen, die aber nicht das Ganze tragen. Ich drehe mich im Kreis. Immer wieder stellt sich den beiden anderen Schauspielerinnen und mir die Frage, wem wir das alles erzählen – und warum. Irgendwann versuche ich es mit einer Therapiesituation. Das bringt mich zuerst auch nicht weiter, denn etwas Langweiligeres als ein Therapiegespräch auf der Bühne kann ich mir kaum vorstellen. Dennoch habe ich das Gefühl, auf der richtigen Spur zu sein. Und schließlich ist es soweit: Ob beim Ausprobieren oder beim Reflektieren, wahrscheinlich irgendwo dazwischen, wird mir plötzlich klar, woran ich mich orientieren kann – Posttraumatische Belastungsstörung. Auslöser für eine solche PTBS ist ein lebensbedrohliches oder als lebensbedrohlich empfundenes Ereignis, wie etwa ein Flugzeugabsturz, Krieg, Folter, Vergewaltigung oder ein Terroranschlag. Charakteristisches Symptom ist das flashback-artige Wiedererleben der traumatisierenden Situation. – Jetzt verstehe ich: Ich erzähle Olgas Geschichte, aber in den besonders demütigenden und bedrohlichen Situationen der Geiselnahme erlebe ich sie auch. Auf dieser Basis verknüpfe ich bei den nächsten Proben episches und dramatisches Spielen, Erzählen und Handeln miteinander.

Hinweise auf diese Lösung bietet das Stück selbst. Dass mir das nicht früher aufgefallen ist! Zum Beispiel Tamaras Ehemann – er leidet massiv an einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Aber vielleicht hat mir ja sogar Olga, die Figur, die ich spiele, selbst den Schlüssel geliefert: Nach der Erschießung einer jungen Frau durch einen der Geiselnehmer werden die Zuschauer aufgefordert, ruhig auf ihren Plätzen zu bleiben. „Wie im Flugzeug, denke ich, da muss man auch immer sitzen bleiben, wenn es gefährlich wird“, sagt Olga darauf. Flugzeugabsturz als Assoziation bei einem Terroranschlag – anscheinend hat Olga ein Gespür für die Auslöser einer Posttraumatischen Belastungsstörung.